BOLDINO XXVIII: NILS RÖLLER

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BOLDINO XXVIII: NILS RÖLLER
Sitzplatz: Landsitz
Boldino pulsiert als Name, als Ort, als Flecken. Zunächst weckt der Name die verlockende Hoffnung eines schützenden Ortes verbunden mit der beeindruckenden Vorstellung, dass selbst ein Exil schön sein könnte. Nachrichten aus Städten und Gebieten, in denen die Corona-Epidemie dezidiert und rücksichtslos gegenüber den Armen bekämpft wird, rücken die Suggestion in eine blaue romantische Ferne. Sobald Nachrichten aus Indien eintreffen, denke ich an mir bekannte Gedichte aus dem Subkontinent. Seit 2008 sind das vor allem Gedichte von Sampurna Chattarji und seit 2018 auch Gedichte von Joy Goswami, die Sampurna aus dem Bengalischen in das Englische übersetzt. Der erste Band mit Übersetzungen beginnt mit diesem Gedicht: 
 
Präludium
 
Ein unermessliches Gedicht ist’s, sein Wurzel-Rhythmus Baum.
Opferblut auf seinen Blättern, selbst ist es auch Blatt.
Es ist ein mächtiger Tanz, seine Wurzel ist die gross-trocken 
Ausgestreckte Hand der Erde unter unseren Füssen.
 
Das Gedicht besteht aus so vielen Meeren, ein erstes Antlitz Wasser.
Saugend aus niederen Tiefen hebt es Berge – 
Je wilder die Ausdehnung – desto mehr wird’s zum Flug 
Streifender Herden – desto mehr verliert es die Hirten der Schafe.
 
Ein unendliches Mass ist’s, sein Wurzel-Baum Tanz.
Gerade du Baum bist Asche in so vielen Wäldern 
Ich jage der Asche nach – ich fasse sie – ich zerbreche dieses Gedicht
Und finde das wirbelnde Atom!
 
[Gruss an Niels Bohr, 1913] [1]
Gegenwärtig wird mit diesem Gedicht ein konkreter Ort in Indien. Der Ort heisst Sanskriti Kendra. Reisende aus Europa erreichen ihn oft spätnachts nach der Ankunft am Flughafen in Neu Delhi. An einem monströs wirkenden Eisentor flackern dann Feuer von Wachmännern, die ihre Köpfe mit struppigen Schals gegen die Kälte schützen. Tagsüber erscheint der Ort in dunstig warmen Licht, Pfauen stolzieren zwischen Terracotta-Statuen, in Teichen blühen Seerosen, zuweilen jagen Affen über Grasflächen und stürmen dann über Blumenhecken in die umgebenden Bäume. Sanskriti Kendra ist ein Areal mit drei Museen (Textilkunst/Teppich, Terracotta-Skulpturen, Alltagsgegenstände), Veranstaltungsräumen und Studios für Künstlerinnen. Es ist das Werk von O.P. Jain. Bei der Eröffnung des Areals pflanzte er einen Banyan-Baum, einen Luftwurzler.
O.P. Jain, Foto von Chandrika Grover 

2018 besuchte ich O.P. Jain erneut. Dabei sprachen wir auch über Gandhi, dem er als kleiner, wissbegieriger Junge begegnet war. O.P. Jain erwähnt dabei lächelnd, dass sich Gandhi für einen Moment auf seine Schulter gestützt habe: „Those touch you never forget“. Es war vielleicht diese Berührung, die den später sehr erfolgreichen Geschäftsmann Jain veranlasste, Friedensbemühungen und vor allem Gespräche zwischen Politikern im Kashmir-Konflikt zu unterstützen und dann, im höheren Alter, sich für Museen und Kunst einzusetzen. Auf dem Fleck Erde mit dem Namen Sanskriti Kendra haben Barbara Ellmerer und ich Freundschaft mit Sampurna Chattarji geschlossen, die seitdem in unserem Journal für Kunst, Sex und Mathematik veröffentlicht. Mit ihren Zeilen reagiert sie auf die Bilder, die die Künstlerinnen im Blog des Journals posten. Die folgenden Worte Sampurnas antworten auf die Zeichnung Reproduktion/Chaotische Käfer, die Barbara Ellmerer zuvor im Journal gepostet hatte:
Wortgeburt
 
Ballett Schmetterling Fallschirm aus dem Wasser singen
Vulva Süsskartoffel Schwamm wundern über Schmerz
Erdbeeren Scheide Ballkleid irgendwo scheint Schönheit möglich
Penis Frühling Zwiebeln in Sommern so heiss, dass es schwer wird, an Frühling zu denken
Hand, Ferse Blutegel Slipper Blatt berstend in blutiger Erinnerung
U-Boot Gasmakse Wegschnecke ist Überleben möglich?
Schlange Spritze Teebeutel gehen langsam, mein Herz trinkt tief
Drache Widder Vogel winden sich in der Kalligraphie von Feuer [2]

Barbara Ellmerer, Reproduction/Chaotic Beetles, 2009, Aquarell auf Papier, 28,5 x 41 cm
Zuletzt, im Oktober 2020, antwortete Sampurna auf einen Post von Judith Albert:
 
Haut berühren
heisst
Draht 
als das zu zeigen, was er ist –
ein schmaler Anspruch
 
Fluoreszieren
  der sterblichen Spule
 
der Hand, die mutig ist,
 
den Brand in fassbare Gefahr
zu wickeln [3]
Judith Albert, Studie zu Space, 2011
 
 
Zwischen 2008 und 2020 sind 125 Beiträge von Sampurna im Journal erschienen. Sie rufen auch die Erinnerung an ein vielsprachiges Indien mit seinen drastischen sozialen Abständen auf. Sie färben die Vorstellung von Boldino ein. In der Corona-Zeit wird die Beschäftigung mit Idyllen zu einem Imperativ, die Gegensätze und Spannungen wahrzunehmen, die alsbald jeden erreichen können, der kein Boldino findet.
Gedichtbände von tamilischen Frauen, die in der Buchreihe Harperperennial erscheinen, bestärken diesen Imperativ, Boldino unter dem Aspekt zu denken, dass es auch ein Boldino ohne Land geben kann, dass Gedichte geschrieben werden können, auch wenn kaum Hoffnung besteht, auch dann, wenn die Frauen, die Gedichte schreiben, deswegen verfolgt werden. Boldino pulsiert in diesen Tönungen und wird eine Fragestellung. Sie setzt an bei Zaun und Tor, die eine Zone vor der Aussenwelt schützen. Die Erfahrung in Indien ergibt Folgendes: Sanskriti Kendra konnte nur betreten und verlassen, wer das schwere Tor passierte. Es war die Barriere zwischen den Taxifahren und Chauffeuren, die vor dem Tor warten mussten. 2008 – als Barbara und ich während ihrer Residency im Sanskriti wohnten – war es nicht üblich, dass die Gäste das Tor für einen Fussweg hin in die Umgebung passierten. Taxis und die Autos von Freunden waren die Vehikel für den Transfer vom Tor in die Welt ausserhalb, die 2008 durch eine Phase von Attentaten, zunächst im nahegelegenen Mehrauli-Markt und dann das Attentat von Mumbai, bei dem Bekannte zu den Opfern zählten, geprägt wurde. Sie führte zu einer „Kapselstimmung“, in der Aufenthaltsorte und ebenso die Verkehrsmittel zu diesen Orten unter dem Aspekt der Sicherheit gewählt und beargwöhnt wurden. 
Diese Stimmung lebt mit Boldino wieder auf. Einen Rand der geschützten privilegierten Zone säumen die Schutzmassnahmen vor Covid 19. Sie führen dazu, dass Menschen in der Umgebung generell beargwöhnt werden und zu potentiellen Gefährdern werden. Die privaten vier Wände werden zur Sicherheitszone aufgewertet und verwandeln sich plötzlich in Zonen der Ansteckung. 
Sampurnas Reaktionen auf die Posts von Barbara Ellmerer und Judith Albert führen hier weiter, und zwar zu den Fragen: Wie sich etwas zu etwas Anderem verhält? Eine Setzung zu einer anderen? Worte zu Farben und Linien? Oder ein Ort wie Sanskriti Kendra oder Boldino zu seiner Umgebung, zu dem, was an den Ort grenzt, von ihm getrennt ist? Eine Grenze kann als Mauer oder Zaun errichtet werden oder als Linie, die einen Unterschied markiert, wie ein Fluss oder Zaun mit Toren. Mit der Grenze wird so die Möglichkeit des Transfers oder des Austausches einbezogen. Die Worte, die Sampurna im Journal findet, haben die besondere Qualität, dass sie nach Ergänzung oder Austausch mit dem Bild verlangen, das ihnen vorausgegangen ist. Insofern gleichen sie der chinesischen Mauer, an deren Bau Kafka erinnert. Sie soll lückenhaft geplant worden sein. 
Granulat-Fussboden im Tram der Cobra-Generation (Zürcher Verkehrsbetriebe), Foto Nils Röller
Dieses Gleichnis hat mich im Alpentram begleitet, das 2021 im Klever-Verlag Wien erscheint (siehe auch: „LiterarischesSelbstgespräch“, in Fixpoetry 18.6. 2020). Dabei verstehe ich das Tram, die Strassenbahn in Zürich, als „Vehikel der Welterfahrung“, als beweglichen Sitz auf fremden Grund und Boden. Fremder Grund und Boden, der nicht wie der Landsitz Boldino der Familie Puschkin gehört oder das Sanskriti Kendra O.P. Jain, sondern ein öffentlicher Raum ist, der mit Mitteln der öffentlichen Hand bewegt wird, ein Raum, in dem ein Fahrgast für eine beschränkte Zeit einen Sitzplatz findet. Wie die Strassenbahn zwischen den Endhaltestellen zirkuliert, so bewegt sich das Alpentram mit Gedichten zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen historischen Idyllen, in denen Freiheit gelebt wird, und der Diaspora, die die indische Dichterin Bhanu Kapil thematisiert. Bei der Recherche nach ihm gewann Albrecht von Haller Kontur. Er verfasste das Gedicht Die Alpen in „Nebenstunden“. Zeit für Dichtung aufzuwenden, war für ihn schwierig, ethisch nicht vertretbar, da er seine Arbeitsleistung für den Fortschritt in den Naturwissenschaften, insbesondere der Medizin, reservieren wollte. Das bedeutete auch Kommunikation innerhalb der Gelehrtenwelt und die Ausbildung von Zeichnern und Kupferstechern, die verlässlich über die Anatomie informieren. 
Albrecht von Haller, Icones anatomicae (Göttingen: Vandenhoek, 1743-1756) Institut für Medizingeschichte der Uni Bern
Trotz des Engagements für den wissenschaftlichen Fortschritt arbeitete Haller wiederholt und beharrlich an Auflagen seiner Gedichte, deren Varianten er minutiös in einem Apparat von Lesarten notierte. Die Spannung zwischen Wissenschaft und Dichtung bewegt das Alpentram.
Albrecht von Haller, Gedichte (siebte Auflage, Zürich: Heidegger, 1758)
An den Haltestellen unterbricht das Tram die Fahrt, der Blick richtet sich vom Fussboden oder vom Buch oder vom Smartphone unwillkürlich zu den Türen. Er registriert, wer das Fahrzeug verlässt oder eintritt. Das führt zu der Frage des Zeitmanagements. Es ist eine Boldino-Frage. Der Aufenthalt in einem Gebiet der Aufmerksamkeit wird unterbrochen, Gedanken und Gefühle schweifen ab, wandern in andere Gebiete, folgen der Kleidung, den Gesten der Fahrgäste und geraten dann wieder auf dem Fussboden des Trams. Er ist dicht gesprenkelt und hält dennoch nicht den Blick. Er lenkt ab und das führt zu der Auffassung, dass ein Gedicht, eine Zeichnung oder ein Ort wie Sanskriti oder Boldino Lücken zulassen und dennoch kompakt sind, damit die Gedanken zu ihnen gern zurückkehren.

Nils Röller

[1] Joy Goswami, Prelude, in: Selected Poems, translated from the Bengali by Sampurna Chattarji (Noida: Harperperennial, 2014, deutsch von Nils Röller), 3

[2] Sampurna Chattarji, Birth of a word, https://www.journalfuerkunstsexundmathematik.ch/2009/04/06/sampurna-chattarji-for-barbara-ellmerer/, deutsch von Nils Röller

[3] Sampurna Chattarji, On Judith Albert, https://www.journalfuerkunstsexundmathematik.ch/2020/08/31/18130/, deutsch von Nils Röller
Nils Röller unterrichtet Philosophie an der Zürcher Hochschule der Künste. Er forscht zum Verhältnis von Text, Bild und Philosophie  (Iconography of Philosophy). 2021 erscheint Alpentram (Wien: Klever, 2021).
Literatur

Joy Goswami, Selected Poems, translated from the Bengali by Sampurna Chattarji (Noida: Harperperennial, 2018)
 
Albrecht von Haller, Versuch Schweizerischer Gedichte (Elfte Auflage, Reprint Zürich: Olms, 2006)
 
Bhanu Kapil, BAN EN BANLIEU (New York: Nightboat Books, 2015/16). Dank an Mohamed Musibli, der diesen Text in einem Seminar zur Summer School Johannisburg/New Delhi vorgestellt hat

Astrid Nischkauer „Literarisches Selbstgespräch von und mit Nils Röller“ in Fixpoetry 18.6. 2020 
Links

Sanskriti Foundation

Journal für Kunst, Sex und Mathematik – Barbara Ellmerer

Journal für Kunst, Sex und Mathematik – Judith Albert

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